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»Meine Mutter (Caroline Worms, 1809-1885, verheiratet mit Bernhard Hirsch, Anm. d. A.) sollte den königlichen Finanzminster Goudchaux in Paris heiraten und reiste, um ihn kennen zu lernen, nach Paris. Sie besuchte dort in seiner Begleitung einen Hofball und hatte das Mißgeschick, daß sich ihr während des Tanzes ihre schweren, langen Zöpfe lösten, die bis zum Saumende ihres Kleides reichten. Sie erzählte, daß im selben Augenblick sämtliche Anwesende, sogar der König, sich um sie geschart und ihr prachtvolles Haar angestaunt hätten. – Aus der Heirat wurde allerdings nichts, da sie sich nicht entschließen konnte, die dritte Gemahlin des Ministers zu werden, dessen beide Frauen im ersten Wochenbett gestorben waren. Sie lernte in Metz meinen Vater, der dort Theologie studierte, kennen und lieben und so wurde statt Paris Cochem ihre zweite Heimat. Meine Mutter war ebenfalls sehr schön, welches mir der Stadtbaurat Becker in Leipzig – ein Cochemer Junge – bestätigte. Er erzählte mir, daß er, als die Mutter als Neuvermählte in Cochem aus dem Schiff gestiegen sei, sie für die leibhaftige Jungfrau Maria gehalten habe. ... Von den Eltern meines Vaters (Wolfgang und Rosina Hirsch, Anm. d. A.) weiß ich folgendes zu berichten: Mein Großvater soll nicht nur ein sehr schöner, stattlicher Mann gewesen sein, sondern auch einen vornehmen Charakter besessen haben. Von ihm wußte mir mein Vater folgende Episode zu erzählen. Zur Zeit der großen Hungersnot in den Rheinlanden entschloß sich König Friedrich Wilhelm von Preußen zu einer Reise dorthin, um sich persönlich vom Stand der Dinge zu überzeugen. Mein Großvater hatte, als die Not am größten war, seine sämtlichen Getreidevorräte unter die Stadtarmen verteilen lassen. Als nun der König auch Cochem auf seiner Reise berühren sollte, wurde den Bürgern vom Landrat eingeschärft, Se. Majestät recht lebhaft hochleben zu lassen, besonders da jeder einen Thaler erhalten sollte. Beim Herannahen des königlichen Wagens ertönte zum Entsetzen der Behörden jedoch nicht das Hoch auf den König, sondern statt dessen ein lautes Hurrah auf den Wohltäter Wolfgang Hirsch!
Die Großmutter, welche mir nur als eine alte, zierliche, kleine Frau im Gedächtnis geblieben, soll indes eine äußerst jähzornige Frau gewesen sein, die sich gar nicht zu beherrschen vermochte. Von ihr wußte mein Vater folgendes lustiges Geschichtchen. Eines Tages, als die ganze, sehr zahlreiche Familie um den Eßtisch versammelt war und das Mädchen gerade die Suppe hineingestellt hatte, ereiferte sich die Großmutter über eine Bemerkung so sehr, daß sie die volle Suppenschüssel ergriff und zum offenstehenden Fenster in den Hof hinauswarf. Alle waren entsetzt, nur der Großvater verhielt sich vollständig ruhig. Nachdem die folgenden Speisen aufgetragen

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